„L’amour toujours“: Wie ein Liebeslied zur Neonazi-Hymne wurde (2024)

Sylt-Partygäste grölen Parolen

„L’amour toujours“: Wie ein Liebeslied zur Neonazi-Hymne wurde

„L’amour toujours“: Wie ein Liebeslied zur Neonazi-Hymne wurde (1)

Das Video von dem Vorfall auf Sylt verbreitete sich online.

Quelle: Screenshot X/Monika Skolimowska/dpa

Eigentlich handelt der Song „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino von der großen Liebe. Durch die sozialen Medien jedoch ist das Lied zu einer Neonazi-Hymne mutiert. Der rassistische Vorfall auf der Insel Sylt ist nur die Spitze des Eisbergs.

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Matthias Schwarzer

Hannover. „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino ist wohl einer der unverfänglichsten Songs der Welt. „I still believe in your eyes“ haucht eine hochgepitchte Stimme, singt dann von Liebe und Herzschmerz, während zeitgleich die Italo-Dance-Beats wummern. Und spätestens wenn die prägnante, quietschige Synthesizer-Hookline einsetzt, ist auf den Neunziger- und 2000er-Partys landauf, landab kein Halten mehr.

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Den Song „L’amour toujours“ hatte Gigi D’Agostino einst als Hommage an die Liebe und ihre „ewige Wirkung“ geschrieben, wie der italienische DJ einmal erklärte. 1999 war der Song zunächst in einer deutlich ruhigeren Version auf dem gleichnamigen Album erschienen, 2001 folgte dann die heute aus den Clubs bekannte „L’Amour-Version“ mit Synthie-Melodien. Sie kletterte bis auf Platz drei der deutschen Charts und blieb dort mehrere Wochen. Noch im Erscheinungsjahr wurde der Song für 250.000 Verkäufe allein in Deutschland mit der Goldenen Schallplatte ausgezeichnet.

Heute, mehr als 20 Jahre später, feiert genau dieser Liebessong ein unfreiwilliges Comeback. Allerdings eines, das sich der italienische Künstler wohl kaum so gewünscht hätte. „L’amour toujours“ mutiert seit einigen Monaten zu einer Art Hymne in der Neonazi-Szene. Nun hat die rassistische Umdichtung auch den Mainstream erreicht.

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Nazi-Parolen auf Sylt

Ein aktueller Fall zeigt das bizarre Phänomen: Seit Mitte der Woche verbreitet sich ein Video im Netz, dass eine Partygruppe an Pfingsten im Nobel-Club Pony auf Sylt zeigt. Die jungen Menschen feiern ausgelassen und stimmen dann den alten D‘Agostino-Song an - jedoch mit anderem Text.

In dem Video ist zu sehen, wie die Gruppe die Synthesizer-Hook grölt und sie mit folgenden Textzeilen versieht: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Direkt vor der Handykamera steht eine junge Frau, die die Parole lautstark in die Kamera singt, im Hintergrund sind mehrere Männer zu sehen, die mit einstimmen. Einer macht den Hitlergruß und ahmt mit der linken Hand den Bart Adolf Hitlers nach.

Das Video sorgt für fassungslose Diskussionen in den sozialen Medien, auch viele Medien berichten darüber. Zahlreiche Prominente, darunter etwa die Moderatoren Jan Böhmermann und Dunja Hayali, verurteilten den Clip auf der Plattform X. Der Betreiber des Pony-Clubs hat sich inzwischen auf Instagram zum Vorfall geäußert: „Auch wir haben den Post gesehen und sind tief schockiert. Wir distanzieren uns von jeder Art von Rassismus und Diskriminierung.“ Gegen die Feiernden wolle man vorgehen. „Wir werden dieses widerliche Verhalten anzeigen und alle strafrechtlichen Möglichkeiten nutzen“, schreiben die Betreiber.

Ein Dorffest und seine Folgen

Der Vorfall auf Sylt ist aber nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs. Bereits seit Monaten instrumentalisieren Neonazis das eigentlich harmlose Musikstück. Der genaue Ursprung des rassistischen Textes ist dabei nicht ganz klar. Kommentare in den sozialen Medien deuten darauf hin, dass die umgedichtete Version von „L‘amour Toujours“ in Neonazi-Kreisen bereits seit einigen Jahren die Runde macht.

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Erstmals der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde die Umdichtung aber durch einen Eklat auf einem Dorffest in Mecklenburg-Vorpommern. Beim Erntedankfest in der Gemeinde Bergholz in Landkreis Vorpommern-Greifswald hatte Mitte Oktober vergangenen Jahres eine Gruppe junger Männer die ausländerfeindliche Parolen zum Song gegrölt. Der Fall sorgte bundesweit für Schlagzeilen, als sich Mitte November ein Video des Vorfalls in den sozialen Netzwerken verbreitete. Im Video war neben der Grölerei auch ein Mann zu sehen, der einen Pullover mit dem Wappen Preußens trägt.

Das Dorf in Mecklenburg-Vorpommern bemühte sich nach Bekanntwerden des Skandals um Schadensbegrenzung: Ulrich Kersten, Bürgermeister der Gemeinde, kündigte damals gegenüber der „Ostsee-Zeitung“ an, zwei der bereits identifizierten jungen Männer hätten künftig Hausverbot. Auch der Staatsschutz ermittelte wegen des Verdachts der Volksverhetzung. Einige Tage nach dem Eklat verschwand der Vorfall wieder aus den Schlagzeilen.

Neonazi-Kommentare auf Tiktok

In den sozialen Medien allerdings war das Thema damit nicht beendet. Hier machte die umgedichtete „L‘amour toujours“-Version nach dem Vorfall eine bemerkenswerte Karriere. Der lautstarke Gesang auf dem Dorffest schien die Neonazi-Szene geradezu zu ermutigen, im Internet weiterzugrölen. Auf der Teenie-Plattform Tiktok aber auch auf Youtube wurde „L‘amour toujours“ spätestens ab November zu einer Art Gemeinschaftshymne, zu einem Verständigungscode unter Rechtsextremen.

Sucht man auf der Plattform Tiktok nach Videos, die den Gigi-D‘Agostino-Song beinhalteten, braucht es nicht lange, um auf rassistische Kommentare, Memes und Nazi-Sprech zu stoßen. Im Kommentarbereich eines Tiktokers, der – offenbar ganz ohne Hintergedanken – seine 1999 erworbene Schallplatte des Albums „L‘amour toujours“ zeigt, schreibt etwa jemand „a r a r d d d a r“ - die Abkürzung für „Ausländer raus, Deutschland den Deutschen“.

Ein anderer Nutzer, der „L‘amour toujours“ als seinen „Song der Woche“ vorstellt, wird von rund 300 fast ausschließlich hetzerischen Kommentaren überschwemmt. „Verbotene Version viel besser“, schreibt jemand mit AfD-Logo im Profilbild. „Die Stimmen im Kopf, die mitsingen wollen“, schreibt ein anderer. „Schöne arische Kinder“, wünscht sich jemand. Gleich mehrere kommentieren „444″. Das ist ein rechtsextremer Code, der für „Deutschland den Deutschen“ steht. Viele deuten in den Kommentaren auch den neuen Text an: „A... raus“.

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Rechtsextreme Codes und AfD-Liebe

Das Video einer harmlosen Partyband, die den Song auf einem Dorffest spielt, wird ebenfalls mit einschlägigen Kommentaren versehen. „Ich kenn da nur einen Text“, „Geiler Song mittlerweile geworden“, oder „444″, ist dort zu lesen. Eine Nutzerin kommentiert das Video mit einem Emoji, das eine Frau mit Kopftuch zeigt, dahinter ein Flugzeug-Emoji und mehrfach die deutsche Flagge - der Kommentar soll eine Abschiebung andeuten. Ein anderer postet drei blaue Herzchen - ein Zeichen, mit dem Anhängerinnen und Anhänger der AfD ihre Unterstützung für die Partei in den sozialen Medien ausdrücken.

In mehreren Fällen seit November wurde das Lied aber auch gezielt in Videos eingesetzt. Eine Nutzerin mit dem Namen „AfD Lea“ postete im November ein Selfie-Video, das mit „L‘amour toujours“ ohne Lyrics unterlegt war. Dazu schrieb die junge Frau: „POV: Wenn in einer Kneipe dieses Lied gespielt wird, und du nicht weißt, welchen Text du singen sollst.“ Dann deutet sie die Lippenbewegung von „Ausländer raus“ an. In der Kommentarspalte zum Video wird die Frau bejubelt: „444 neue deutsche Hymne“, schreibt da jemand. Das Video ist auch heute noch online.

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Im Hintergrund läuft der Refrain des Lieds "L'amour toujours".

Quelle: Screenshot Tiktok

In mindestens einem Fall wurde das Video eines mutmaßlichen Abschiebefluges mit dem Gesang vom Dorffest unterlegt. „Neue Nationalhymne“, schrieb jemand in den Kommentaren. Oder: „Dieses Lied ist neu geboren und so soll es sein. Ich bin stolz dafür, stolz, Deutscher zu sein und ich stehe dazu, egal, was andere sagen.“ In den Kommentaren waren auch immer wieder Deutschland-Flaggen und zwei Blitz-Emojis zu sehen. Letztere können als Code für die Siegrune verstanden werden, das Zeichen der SS, das in Deutschland verboten ist.

Plattformen zeigen sich hilflos

Auch auf das offizielle Musikvideo des Songs auf der Plattform Youtube prasselten zeitweise dutzende einschlägige Kommentare ein. Zu zahlreichen begeisterten englischsprachigen Beiträgen aus aller Welt mischten sich immer wieder deutsche Hassbeiträge. Erst nach einer Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) beim Management von Gigi D‘Agostino im November wurde die Kommentarfunktion unter dem Song deaktiviert. Ob Gigi D‘Agostino rechtliche Schritte gegen die Instrumentalisierung seines Liedes plant, blieb unklar: Die Anfrage wurde nie beantwortet.*

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Die Plattformen Tiktok und Youtube zeigten sich angesichts des bizarren Trends weitestgehend hilflos. Auf RND-Anfrage verwies die Plattform Tiktok im November auf ihre Community-Regeln. Eine Sprecherin erklärte, Hass habe auf der Plattform „keinen Platz“. Einige rassistische Kommentare wurden nach der RND-Anfrage entfernt. Die Suchanfrage „Ausländer raus“ war auf der Plattform Tiktok schon länger gesperrt, die Formulierung „Deutschland den Deutschen“ ist aber bis heute suchbar. Auch werden Codes wie etwa „444″ offenbar nicht automatisch aussortiert.

Die Plattform Youtube erklärte, man habe nach dem Hinweis des RND auf Hasskommentare unter dem Musikvideo Maßnahmen ergriffen und Kommentare entfernt. Unter einem inoffiziellen Upload des Songs sind aber spätestens seit dem Sylt-Vorfall wieder hetzerische Parolen zu finden, darunter auch der Satz „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ - er wird offenbar nach wie vor nicht automatisch gefiltert.

Immer wieder neue Vorfälle

Mittlerweile ist klar: Die rassistische Umdeutung des Liebesliedes hat ihren Weg längst aus den sozialen Medien in die Realität gefunden. Immer wieder berichten Medien über Vorfälle auf Dorffesten und auf Veranstaltungen, in denen der neue Text zum Song angestimmt wird. Nicht immer dürften die Beteiligten einschlägige Neonazis sein, wie der Vorfall in Sylt zeigt. Die rassistische Umdichtung hat offensichtlich längst eine ganz eigene Dynamik angenommen und die breite Masse erreicht.

Wie die „Kieler Nachrichten“ berichten, wurde die Parole zuletzt auch auf der Aufstiegsfeier des Fußballvereins Holstein Kiel gesungen. Auf der Party wurde der Song laut dem Bericht mehrfach gespielt, von einer Personengruppe am Rand des Platzes sollen dabei die rechtsradikale Parolen gerufen worden sein. Ein Sprecher des Vereins distanzierte sich umgehend gegenüber der Zeitung: „Als weltoffener Verein stehen wir für Vielfalt, Toleranz und eine bunte Gemeinschaft.“

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Die Konsequenz all dessen ist derweil schon absehbar: Der eigentlich harmlose Partysong „L‘amour toujours“, die Hommage an die Liebe, dürfte auf Feiern künftig wohl immer seltener gespielt werden. Ein Sprecher des Fußballvereins hat bereits deutlich gemacht: „Wir werden dieses Thema in unserer Analyse der Veranstaltung ansprechen und für zukünftige Events mitnehmen, um dieser Art von Umdeutung eigentlicher Partymusik keine Bühne zu bieten.“

*Update, 25. Mai, 13 Uhr: Gigi D‘Agostino hat inzwischen auf eine RND-Anfrage geantwortet. Sein Statement lesen Sie hier.

Dieser Artikel wurde erstmals im November 2023 veröffentlicht und aufgrund der aktuellen Ereignisse grundlegend aktualisiert.

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